Einbahnstraße

Es lebe das Silo! Die unterschätzte Macht der klassischen Linienorganisation

In der schnelllebigen Welt der Unternehmensführung wird Agilität oft als der einzig wahre Weg zur Effizienz und Produktivität gefeiert. Doch gibt es noch eine andere, oft übersehene Methode: die klassische Linienorganisation. In diesem Artikel werfen wir einen frischen Blick auf die Vorteile der Linienorganisation und argumentieren, dass sie in bestimmten Kontexten sogar überlegen sein kann. Erfahren Sie, wie eine klar definierte Hierarchie, feste Prozesse und Stabilität zu mehr Effizienz und Vorhersehbarkeit führen können und warum das Silo noch lange nicht am Ende ist.

Inmitten des stetigen Chors, der die Vorzüge der Agilität besingt, mag der Aufruf „Es lebe das Silo!“ wie ein anachronistisches Echo klingen. Doch diese Worte sind nicht dazu gedacht, eine Kontroverse hervorzurufen, sondern eine Überlegung anzustoßen: Dass der Kontext, in dem wir operieren, oftmals der Schlüssel zur Wahl der richtigen organisatorischen Struktur ist.

In diesem Artikel untersuchen wir die Merkmale und Potenziale von Agilität und klassischen Linienorganisationen – oft abfällig als 'Silos' bezeichnet. Agilität, ursprünglich aus der Softwareentwicklung stammend, steht für Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und kontinuierliche Verbesserung. Klassische Linienorganisationen hingegen setzen auf hierarchische Strukturen mit festgelegten Rollen und Verantwortlichkeiten sowie stabilen Prozessen. Beide Modelle bergen ihre spezifischen Stärken und Schwächen und eignen sich jeweils in unterschiedlichen Kontexten.

Agilität in ihrem Kontext

Die agile Methodik besticht durch ihre Anpassungsfähigkeit und Reaktionsfähigkeit, wodurch sie in unsicheren, schnelllebigen Umgebungen, wie sie in der Tech-Branche vorherrschen, ihr volles Potenzial entfaltet. Agile Teams können auf neue Informationen reagieren, Hypothesen aufstellen und testen und ständig Verbesserungen implementieren. Ein unschätzbarer Vorteil in Kontexten, in denen Anforderungen fluktuieren oder Projekte eine kurze Laufzeit haben.

Der Nutzen von Agilität in bestimmten Kontexten ist nicht zu leugnen. Daten von Vitality Chicago aus dem Jahr 2020 zeigen, dass 42% der agilen Projekte erfolgreich waren, verglichen mit nur 13% Erfolg bei Projekten, die nach dem traditionellen Wasserfallmodell durchgeführt wurden. Zudem lag die Ausfallrate bei agilen Projekten bei nur 11%, während sie bei Projekten nach dem Wasserfallmodell bei 28% lag. Interessanterweise zeigt dies, dass Agilität in dynamischen Kontexten, in denen Veränderungen häufig und unvorhersehbar sind, besonders effektiv ist. Aber in stabileren Umgebungen, in denen Veränderungen weniger radikal oder seltener sind, könnte der relative Nutzen von Agilität nachlassen.

Diese Erkenntnisse verdeutlichen, dass Agilität nicht die universelle Lösung aller Probleme ist, sondern eine wirkungsvolle Antwort auf spezielle Herausforderungen in bestimmten Kontexten bietet. Doch wie sieht es mit Kontexten aus, die Stabilität, Vorhersehbarkeit und Effizienz benötigen? Hier kommen klassische Linienorganisationen ins Spiel, zu denen wir uns im nächsten Abschnitt wenden werden.

Linienorganisation – der Klassiker

Linienorganisationen, oft synonym mit dem Begriff 'Silo' verwendet, bieten eine strukturierte, hierarchische Organisationsform, die seit Jahrhunderten die Grundlage von Unternehmen bildet. In diesen Strukturen sind Rollen, Verantwortlichkeiten und Abläufe klar definiert. Sie ermöglichen eine effiziente Ressourcenverteilung, vorhersehbare Abläufe und fördern die Spezialisierung.

Stabilität und Vorhersehbarkeit sind die Hauptstärken von Linienorganisationen, die sie zu idealen Kandidaten für Branchen und Umgebungen machen, in denen diese Eigenschaften entscheidend sind. Nehmen wir zum Beispiel die Produktion in der Automobilindustrie. In einer Welt, in der jedes Teil auf das andere abgestimmt sein muss und Tausende von Komponenten nahtlos zusammenpassen müssen, sind stabile, vorhersehbare Prozesse und Routinen entscheidend.

Vom Irrtum des Universalen

Wie die bisherige Diskussion zeigt, ist der Kontext entscheidend, wenn es darum geht, die passende Organisationsform und Methodik für ein Unternehmen auszuwählen. Agilität und Linienorganisationen sind nicht universell gut oder schlecht – sie sind Werkzeuge, die in den passenden Kontexten effektiv einsetzbar sind.

Das Cynefin-Framework, entwickelt von Dave Snowden, bietet hierbei ein nützliches Instrument. Dieses Modell hilft dabei, die Komplexität verschiedener Problemstellungen zu verstehen und so zu entscheiden, welcher Ansatz am besten geeignet ist.

Cynefin-Framework

Das Framework teilt Situationen in fünf Domänen ein: einfach (oder offensichtlich), kompliziert, komplex, chaotisch und ungeordnet. Für einfache und komplizierte Kontexte, in denen Ursache und Wirkung klar erkennbar oder durch Expertenwissen bestimmt sind, sind lineare Ansätze, wie sie in klassischen Linienorganisationen gefunden werden, oft vorteilhaft. In komplexen und chaotischen Kontexten, wo Ursache und Wirkung nicht direkt ersichtlich sind, kann Agilität besser passen.

Es ist daher entscheidend, den Kontext eines Unternehmens – sein Geschäftsumfeld, seine Branche, seine Mitarbeitenden, seine Kunden, seine Ziele – gründlich zu verstehen und zu analysieren, um die geeignete Methode für seine spezifischen Bedürfnisse auszuwählen. Ein Unternehmen in der Technologiebranche mit hohem Innovationsdruck und schnellen Veränderungen könnte beispielsweise von einer agilen Herangehensweise profitieren. Im Gegensatz dazu könnte ein Unternehmen in einer traditionelleren Branche mit stabilen Anforderungen und Prozessen durch die Stärken einer Linienorganisation profitieren.

Fazit

Der Aufruf „Es lebe das Silo!“ ist also keineswegs eine Verneinung der Agilität. Vielmehr ist es eine Anerkennung, dass es mehr als eine Möglichkeit gibt, ein Unternehmen zu führen und dass der Kontext entscheidend ist. Sowohl Agilität als auch Linienorganisationen haben ihre Berechtigung – je nach Kontext und spezifischen Anforderungen. Anstatt den einen Ansatz gegen den anderen auszuspielen, sollten wir uns darauf konzentrieren, das Beste aus beiden Welten zu nutzen und die passendste Methode für unseren spezifischen Kontext auszuwählen. So kann das Silo neben der Agilität bestehen und sein volles Potenzial entfalten. Es lebe das Silo – und die Agilität!

Agil vs. klassisch
Artikel von:
Jürgen Lichtenthäler, Senior Consultant, Cassini Consulting AG
Jürgen Lichtenthäler
Senior Consultant
Daniel Wochnik, Senior Consultant, Cassini Consulting AG
Daniel Wochnik
Senior Consultant

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