Führungsformen in einer unbeständigen Zeit
Heute sehen wir uns konfrontiert mit immer neu entstehenden Arbeitsformen, dem Ruf nach mehr Verantwortung durch Einzelpersonen und einem hohen Einfluss von externen Faktoren auf die Unternehmensentwicklung. Doch welche Rolle nimmt Führung und vor allem die konkrete Führungsaufgabe und -rolle in Unternehmen ein? Welches Potenzial liegt in der Art zu führen und in der Führungskultur?
In einem Unternehmen, in dem vor allem die Arbeitsergebnisse betrachtet, die Zielerreichung auf Basis von Kennzahlen geprüft und Führungskompetenz durch die formelle Organisation bestimmt wird, entsteht ein blinder Fleck. Denn einerseits nimmt die Führungskultur und die Art der Führung Einfluss auf die gesamte Arbeitsweise in einer Organisation. Andererseits ziehen Veränderungen in der Organisation (z. B. durch die Digitalisierung, veränderte Anforderungen durch Generationenwechsel, durch Globalisierung oder durch Marktveränderungen) auch Veränderungen in der Führungsaufgabe nach sich. Dort, wo neue Arbeitsformen wie mobiles Arbeiten, Agilität und New Work erhebliche Anforderungen an Mitarbeitende stellen, ist auch eine (nachhaltige) Gestaltung von Führung und Zusammenarbeit relevant. Wie genau diese Anforderung aussieht und vor allem, was sie für den praktischen Führungsalltag heißt, ist jedoch häufig unklar.
Führungsverständnis und die Rolle einer Führungskraft
Berücksichtigt man zunächst die aktuelle Rolle von Führungskräften, wie sie in vielen Organisationen immer noch gelebt wird, so ist die Führungskompetenz durch die formelle Organisation definiert und abgegrenzt (formelle Führung). Bestehende Strukturen und das Führungsverständnis haben sich über Monate und Jahre herausgebildet und werden teils ohne Hinterfragen und Reflexion übernommen und gelebt. Auch hat sich das zugrundeliegende Führungsverständnis und -verhalten zunächst bewährt; wobei es einer anderen Zeit entstammt, und üblicherweise geprägt ist über die Erfahrung der jeweiligen Generation. So liegt in Generationen vor Y und Z eine starke Disziplin- und Hierarchieorientierung vor und so kann es passieren, dass die Rolle oft als ein nächster Schritt auf der Karriereleiter gesehen (wurde). Regelmäßig wird die Aufgabe durch Expertentum und Fachwissen untermauert, doch die (soziale) Führungskompetenz und der individuelle Fokus auf Mitarbeitende können fehlen. Insbesondere in Organisationen mit stark von außen definierten Strukturen und Hierarchien wird die Führungsaufgabe als übergeordnet, als prozessdefinierend und als meinungsführend gesehen.
Doch hier liegt bereits der erste blinde Fleck: Führung heißt nicht Herrschaft
Eine Führungsperson kann zwar Strukturen erhalten, für einen Gruppenzusammenhalt sorgen und das Erreichen von Zielen durch Individuen oder Gruppen sicherstellen; sie ist jedoch nicht im Sinne von Leiten und Führen die Person, die allein die Richtung vorgibt.
Hier liegt das Missverständnis der Führung im Verständnis von der Definition von Zielen als alleinige Aufgabe der Führungskraft und ohne den steten Fokus auf die Organisation und die Mitarbeitenden. Die Führungsaufgabe ist eine ausführende Tätigkeit, die zum Ziel der Organisation leitet und ein motivierendes Umfeld schafft. Eine Führungskraft ist der Organisation, dem Unternehmenszweck und dem Ziel des Teams, das wiederum in das Gesamtziel einzahlt, verpflichtet. Ihr Fokus liegt weder auf Macht noch (Allein)Herrschaft noch Kontrolle.
Unberücksichtigt bleibt in diesem Zusammenhang häufig auch die Rolle der informellen Führung. Führung als abstrakte Begrifflichkeit kann viele unterschiedliche Dimensionen beinhalten. So übernehmen Mitarbeitende in sich abgrenzenden Rollen und Kontexten tagtäglich Führungsfunktionen und üben damit Einfluss auf die Unternehmenskultur, Kommunikation, Arbeitsweisen und Vorgehensmodelle aus.
Demnach ist der zweite blinde Fleck, dass Führung weder ein Privileg, noch an eine formelle Rollendefinition gebunden ist.
Sowohl in Teams als auch in Arbeitsgruppen bildet sich stets eine informelle Führung heraus. Dies erfolgt vor Allem bei Mitarbeitenden aufgrund von Persönlichkeitsmerkmalen und kann sich auch aufgrund von herausragender Fachkompetenz bilden. Insbesondere im Zuge der derzeitigen Marktentwicklung mit Volatilität, Unsicherheit und individuell steigenden Anforderungen seitens Kunden und Mitarbeitenden entstehen neue und weitergehende Anforderungen an Führungskräfte. Die sogenannte Ambidextrie ist eine Voraussetzung für Unternehmen, um in Zukunft das „sowohl als auch“ besser abzubilden: Sowohl Stabilität, Strukturen und Sicherheit als auch Geschwindigkeit, Flexibilität und Skalierbarkeit. Eine Erfüllung muss zwangsläufig auch über informelle Führung und den stärkeren Einbezug aller Mitarbeitenden erfolgen. In diesem Zusammenhang bieten Ansätze von geteilter Führung und ein höherer Grad an Selbstorganisation neue passende Möglichkeit, den Herausforderungen gerecht werden zu können.
Greift man den Gedanken noch einmal auf, dass Führung keine Herrschaft und die Führungskraft dem Ziel der Organisation verpflichtet ist, so wird auch verständlich, wieso die Klarheit über die Führungsaufgabe und den Unternehmenszweck so wichtig sind. Durch Klarheit über das Ziel und das Lösen von Zielkonflikten kann ein sinnvoller Rahmen für die Arbeit eines Teams geschaffen werden. Genau in diesem Zusammenhang kann Führung die rahmengebende Komponente sein, die für Orientierung und Stabilität sorgt, gleichzeitig aber die notwendige Freiheit für das Wirken der Mitarbeitenden lässt und somit Selbstwirksamkeit ermöglicht. Durch die Orientierungspunkte sowie die Rollen- und Aufgabenklarheit, die geschaffen werden, wird die Resilienz (u. a. Widerstandskraft) der Mitarbeitenden und der Organisation gestärkt, was zu einer leistungsfähigeren und gesünderen Organisation führt.
Der letzte blinde Fleck äußert sich in Starre der Mitarbeitenden durch nicht authentisches Führungsverhalten
Die Herausforderung in einem teils unsteten Umfeld ist die Balance zwischen Stabilität und Strukturen sowie Flexibilität und Skalierbarkeit. Doch Führung bedeutet genau dann Unterstützung und Halt zu geben, wenn's gebraucht wird (und nur dann). Und wenn es vorkommt, dass Mitarbeitende mit Komplexität umgehen müssen und dennoch ihre Aufgaben meistern, sind Stabilität, Authentizität und eine gewisse Vorhersehbarkeit besonders wichtig. Gemeint ist damit Transparenz und Verlässlichkeit in der Führungsaufgabe und in Reaktionen, sodass gleiches Verhalten innerhalb der Mitarbeitenden-Führungsdynamik gleiche Reaktionen hervorbringt. Falls wiederkehrendes Verhalten unterschiedliche Konsequenzen von einer Führungskraft nach sich ziehen, werden Engagement und Anstrengung auf Dauer nicht mehr als sinnvoll und lohnend erachtet, da positive Konsequenzen nicht mehr erwartbar sind. Gemeint ist damit nicht das angepasste Handlungsvermögen im Rahmen von Reaktionen auf das Marktgeschehen und wirtschaftliche Aspekte (diese bedürfen klarer Kommunikation und Transparenz), es geht vielmehr um die Beziehung zwischen Mitarbeitenden und Führungskraft, und Reaktionen im Zusammenhang der disziplinarischen Führungsaufgabe. Denn als Resultat kann diese Situation zu Starre bei Mitarbeitenden führen: Engagement wird geringer, da es als sinnlos empfunden wird und daher ein Rückzug stattfindet. Die unstete Umgebung durch die Führungskraft führt zur Demotivation.
(Wieder)gefundenes Führungsverständnis
Im Zuge einer sich verändernden Arbeitswelt entwickelt sich auch der Führungsbegriff weiter. Neue Ansätze von Führung und eine andere (oder auch anders verstandene) Gestaltung von Führungsarbeit treten in den Vordergrund, denn die Sinnfrage bei der Arbeit wird zentral. Im Rahmen von flexiblerer Gestaltung von Arbeit rücken individuelle Potenziale und persönliche Vorstellungen als wichtige Ausrichtung für wertschöpfende und erfüllende Arbeit in den Fokus.
Führung wandelt sich dabei wieder von einer reinen Führungsrolle zu einem ganzheitlichen Verständnis für die Bedürfnisse des sozialen Systems einer Organisation. Das soziale System meint hier den betrachteten Zusammenhang innerhalb eines Unternehmens mit seinem sozialen Gefüge aus verschiedenen Menschen mit vielfältigen Ansichten. Damit nehmen die Komplexität und Herausforderungen in der Führungsaufgabe zwar zu, doch sie ermöglicht zugleich das Gestalten und Lernen von Verhaltensweisen, die einer Komplexität des Marktes in nichts nachstehen und so den Umgang mit dieser aus der Organisation heraus erleichtern. Diese Art der Führung lässt wirkungsvolle Entscheidungen in einem unsicheren Umfeld zu, die insofern eine Wirkung erzielen, dass sie die Entwicklungsrichtung einer Organisation beeinflussen.
Führungsentscheidungen sind in ihrem Kern unterstützend und agieren im Sinne der Mitarbeitenden und vor allem im Sinne der gesamten Organisation, die einen ganzheitlichen Blick auf die internen und externen Belange benötigt. Ein zentraler Faktor ist dabei das Selbstverständnis der Führungskraft und somit die Entwicklung der eigenen Identität und Rolle in der Führungsaufgabe, da die Unternehmenskultur in Relation zur jeweils eigenen Identität und dem eigenen Werteverständnis an Einfluss gewinnt. Und dennoch liegt der Schlüssel auch hier im Menschsein und in der Individualität. Entscheidungen und Handlungen für die Zukunft bieten keine Sicherheit und dennoch ist es wichtig im besten Sinne zu interagieren und zu handeln. Somit wird es zukünftig vielmehr um Beziehungsaspekte und die Relationen zueinander gehen, weniger um die missverstandene Betrachtung von Ressourcen. Denn sobald Werte, Haltungen und individuelle Relationen wichtiger werden und sind, werden auch die Haltung und die Werte, die eine Führungskraft und eine Organisation vertreten, relevanter. Führung ist damit vor allem Beziehungsmanagement.
Individualität und prozessgerechte Führung sind Erfolgsfaktoren
Mit dem Beziehungsmanagement rückt ein weiterer wichtiger Baustein in den Vordergrund: Echte Beziehungen und das Verständnis von Werten und Bedürfnissen basieren auf der Anerkennung von Individualität und Diversität. Die Sicht darauf und die sinnvolle Nutzung von resultierenden Synergien sind Erfolgsfaktoren für Unternehmen, wenn es um Zukunftsfähigkeit und Innovationskraft geht. Da Mensch nicht gleich Mensch ist, bedarf es einer sowohl situativen als auch individuellen, transformationalen Führung.
Ein Beispiel dafür ist, dass offenes Lob und Anerkennung beispielsweise für Mitarbeitende in einem Team nicht für jede Person als angenehm und positiv empfunden werden. Es existieren unterschiedliche Erwartungshaltungen an den Umgang, die beispielsweise durch die persönliche Erfahrung oder die Kultur geprägt sind. Grundsätzlich besteht ein individuelles Empfinden von Kontext, Zugehörigkeit, Gesundheit etc., daher sollte weder in Bezug auf eine Person oder ein Team noch in Bezug auf Situationen eine feste Zuschreibung erfolgen, da dies im Gegenteil eher zu Missverständnissen, Demotivation oder Konflikten führen kann, die sich wiederum negativ auf die Leistungskraft auswirken. Eine Voraussetzung für das Verständnis von Individualität als auch das Erkennen und Verstehen von individuellen Bedürfnissen ist die Reflexionskompetenz einer Führungskraft. Nicht allein das Verständnis dessen, dass Individualität existiert und relevant im Rahmen der Zusammenarbeit ist, sondern vor Allem die Möglichkeit der Reflexion von Situationen und das Gegenüberstellen eigener und fremder Sichtweisen ist dabei erforderlich. Mit dem Erlenen von speziellen Methoden sowie regelmäßigen Fragestellungen kann eine Führungskraft die eigene Reflexionskompetenz stärken und somit dem Faktor Individualität im Alltag angemessen Rechnung tragen. Gleichermaßen zielt dies auch ab auf die Reflexionsfähigkeit aller Mitarbeitenden. Es ist förderlich die jeweils eigenen Bedürfnisse, Motive und Werte zu hinterfragen und zu kennen. Und daraus ein Miteinander und eine Unternehmenskultur zu prägen, die ein Austausch und eine Berücksichtigung dessen ermöglichen. Die Führungskraft kann in diesem Zusammenhang als Begleitung und Vorbild fungieren.
Und nicht nur die individuelle Berücksichtigung, sondern auch die generelle Sichtweise der Führungskraft nehmen eine entscheidende Funktion ein. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang ein psychologisches Phänomen, der sogenannte Pygmalion-Effekt. Eine positive Erwartungshaltung der Führungskraft gegenüber den eigenen Mitarbeitenden ist der beste Weg die Effektivität der Führungskraft zu verbessern, denn das optimistische Menschenbild einer Führungskraft ist die stärkste Führungstechnik (zunächst auch künstlich induziert). Es lässt sich feststellen, dass die Dynamiken in Hinsicht darauf, was eine Führungskraft über Mitarbeitende denkt, sich in gewissem Maße bewahrheiten. Der Effekt ist außerdem auch bei jeder Person selbst gegeben, sodass ein positives, zielgerichtetes Bestärken eines Teams deren Leistung positiv beeinflusst.
Schlüssel zu einer leistungsfähigen und gesunden Organisation
Und dies führt zum letzten Punkt, der den Gewinn in den blinden Flecken erklärt. Gewinn, der aus reduzierten Kosten durch geringere Fluktuation und weniger Krankheitstagen resultiert als auch Gewinn, der durch Mitarbeitende entsteht, die für Komplexität und Kundenbedürfnisse sensibilisiert sind. Neben der Sichtweise der Führungskraft gibt es natürliche Bedürfnisse von Menschen, die es zu erfüllen gilt. Nicht zuletzt durch die Digitalisierung, den Generationenwechsel als auch eine neue Arbeitswelt steigt der Bedarf an Arbeitsformen, die die Selbstwirksamkeit von Mitarbeitenden und deren Eigenverantwortung sowie Selbstorganisation fördern. Einbezogen zu sein und Erfahrungen der Selbstwirksamkeit, d. h. der Glaube etwas bewirken zu können, sind grundlegende Bedürfnisse eines*r jeden und fördern die Resilienz von Teams. Dazu bedarf es konkreter Möglichkeiten im Arbeitskontext und klarer Orientierungspunkte. Insbesondere Vertrauen ist eine Voraussetzung, die zwingend notwendig wird. Zumal Vertrauen der ultimative Prozessbeschleuniger ist und zusätzlich Kosten mindert. Denn dort, wo Eigenverantwortung gefördert und Selbstorganisation ermöglicht werden, können Kontrollen und Mehrfachschleifen hinterfragt und folglich reduziert werden, was zu nachhaltiger Leistungsfähigkeit führt.
Es entsteht Erfolg in Form von zufriedenen, leistungsfähigen, gesunden Mitarbeitenden und demnach ein großer Gewinn für jedes Unternehmen.
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