Agilität bei der Landeshauptstadt München
Agilität in der Verwaltung. Was bedeutet das eigentlich? Dieser Frage ist Cassini bereits vergangenes Jahr in einem Thesenpapier nachgegangen und hat Fragen wie Begriffsdefinition und Anwendbarkeit in der Verwaltung thematisiert.
Auch in der Landeshauptstadt München gewinnt das Thema Agilität seit Jahren immer mehr an Bedeutung. Johannes Burger ist Multiprojektmanager im IT-Referat der Landeshauptstadt München und seit 2020 strategisch mitverantwortlich für die Einführung von Agilität in städtischen Projekten.
Im Gespräch vertieft er die Erkenntnisse aus dem Thesenpapier und äußert sich zu seinen Erfahrungen aus der Praxis der agilen Transformation.
Lieber Herr Burger, seit wann und inwiefern hat das Thema Agilität bei der LHM Relevanz?
Das Thema Agilität hat bei der LHM seit über zwei Jahren eine besondere Aufmerksamkeit. Gearbeitet wird derzeit an Themen der IT-Organisation und der Digitalisierung, die über Projekte umgesetzt werden. In diesen können agile Ansätze gut ausprobiert und angewendet werden.
Seit 2018 hatten wir erste Versuche mit Scrum-Ansätzen unternommen und seit 2020 begonnen, diese Projekte strukturiert zu beobachten.
Aus den Erfahrungen und dem strukturierten Beobachten wollten wir lernen und Erkenntnisse gewinnen, was in dem konventionellen Umfeld der öffentlichen Verwaltung funktioniert und was nicht. Mittlerweile hat die LHM ca. 20 agile Projekte und wir sind an einem Wendepunkt angekommen – die Predigt ist geschrieben, jetzt geht es darum, die Messe zu lesen.
Wir haben daher ein Team innerhalb der LHM mit agilen Kompetenzen gebildet. Mittlerweile besteht dieses aus über einem halben Dutzend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, welches auch selbst agil handelt. Nachdem unsere Aufgabe anfänglich hauptsächlich im Zuhören – insbesondere für die Identifikation des Wissens zur Agilität - in den agilen Projekten bestand, gingen wir im nächsten Schritt daran, die Projekte aktiv zu beraten.
Das fängt für uns bereits am Anfang mit der initialen Projektberatung vor dem eigentlichen Projekt an. In dieser prüfen wir zusammen mit den Teams, wo, wann und in welchem Maß das Projekt agil sein kann, oder ob eher ein klassischer Ansatz angestrebt werden sollte, weil das Umfeld dafür nicht geeignet ist.
Welche Ansätze verfolgen Sie hierbei?
In der initialen Projektberatung arbeiten wir die Unterschiede zwischen einem agilen und einem klassischen Projektauftrag heraus. Eine Herausforderung dabei ist, die unterschiedlichen Rollen zu vermitteln und zu besetzen.
In Scrum beispielsweise ist der Product Owner für die fachlichen Anforderungen zuständig, im klassischen Umfeld verantwortet stattdessen der Business Requirements Engineer die Konzepte u. ä.
Das ist ein Kulturwandel, der verinnerlicht werden und sich mittel- und langfristig entwickeln muss.
Deshalb haben wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den letzten zwei Jahren dafür Templates, Vorträge, einen eigenen Arbeitsraum im Intranet und viele andere Angebote zur Verfügung gestellt. Zusätzlich sind wir gerade im Aufbau eines Agile Coaching Competence Centers.
Neben der initialen Projektberatung wollen wir mit der Rolle des Agile Coach auch während der Laufzeit der Projekte zur Seite stehen und das Team beraten.
In der Literatur gibt es keine einheitliche Definition von Agilität. Hat die LHM ein gemeinsames Verständnis für Agilität?
Agilität war anfangs auch bei uns ein „Buzzword“, welches man irgendwie verwendet hat. Der Begriff wurde oft damit gleichgesetzt, Projekte schneller umzusetzen. Wir haben uns daraufhin für die Schaffung eines gemeinsamen Verständnisses folgende Frage gestellt: Was sind unsere Werte und Ziele in Bezug auf Agilität und welche Veränderungen könnten wir dadurch erreichen? Ein definiertes Ziel im Rahmen der Agilität: Mit einem festgegebenen Budget und Zeitraum etwas Nutzbares herstellen.
Bei der LHM gibt es i. d. R. konkrete Vorgaben zum Budget durch den Stadtrat oder Gesetze, die den Inhalt vorgeben. Es benötigt derzeit zu viel Zeit, bis etwas umgesetzt ist, das sich jemand vor mehreren Jahren vorgestellt hat.
Wir hatten uns daraufhin das Ziel gesetzt, bei begrenztem Budget zu planen, was wir z. B. in einem Jahr erreichen können. Dabei stellen wir bewusst Zwischenergebnisse vor und akzeptieren auch Veränderungen.
Das bringt uns zu einem weiteren Baustein für das gemeinsame Verständnis der Agilität: Das Verinnerlichen eines agilen Mindsets.
Veränderungen in einem Projekt zu akzeptieren und gut zu heißen, ist nicht selbstverständlich. In der Regel gibt es eine klare Anforderung oder ein Konzept, das umgesetzt werden soll. Haben sich daran Änderungen ergeben, so muss ein Change Request erstellt werden.
In der Agilität sind Veränderungen bewusst geplant. Anforderungen dürfen und müssen sich im Laufe von mehreren Projektjahren ändern. Ein agiles Mindset beinhaltet auch, zu lernen und interdisziplinär und transparent zusammenzuarbeiten.
Wie konnten Sie mit Ihrem Verständnis von Agilität die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erreichen?
In der öffentlichen Verwaltung sind i.d.R. verschiedene Verantwortlichkeiten, Hierarchien und Prozesse gegeben. In der Agilität spielt es jedoch weniger eine Rolle, ob ich beispielweise als IT-Experte oder Fachexperte Verantwortung trage. Es ist vor allem wichtig, auf Augenhöhe und transparent im Team zusammenzuarbeiten.
In einem Daily berichten alle über ihre Aufgaben und Herausforderungen. Beim klassischen Ansatz ist es beispielsweise die Teilprojektleitung, die über die Tätigkeiten ihres Teams Auskunft gibt.
Ein agiles Mindset erfordert die Fähigkeit zur Selbstorganisation und zur Eigenverantwortung. Dafür ist ein kultureller Wandel erforderlich. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in der öffentlichen Verwaltung, gerade weil sie lieber Prozessen und Regeln folgen und Sicherheit genießen wollen. Es ist wichtig, dies zu akzeptieren und zu verstehen, dass man Kultur und Werte nicht verordnen kann.
Wenn ein Team noch nicht bereit ist, ein agiles Mindset zu leben, dann ist dies in Ordnung, dann macht an der Stelle Agilität jedoch noch keinen Sinn. Wir arbeiten dabei nach dem von Dr. Gerhard Wohland formulierten Leitsatz: „Kultur ist das Gedächtnis eines Sozialsystems. Erst wenn man etwas aktiv lebt, entsteht daraus eine Kultur und nicht umgekehrt.“
Werte und Kultur lassen sich nicht modellieren oder verordnen. Sie sind ein Spiegel der real gelebten Arbeitsweisen.
Wie sind Sie konkret mit dem Thema Kulturwandel im Kontext der Agilität umgegangen?
Den Kulturwandel erreicht man durch Success Stories und Good Practices – ganz nach dem Motto „Tue Gutes und rede darüber“. Dabei versuchen wir nicht, zuerst die Führungskräfte von Agilität zu überzeugen. Die Transformation muss sich von unten heraus durchsetzen.
Das bedeutet, Dinge mit der nötigen Geduld auch einfach einmal anzugehen. Wir müssen akzeptieren, dass nicht zu jedem Vorhaben eine agile Herangehensweise passt und wir diese nicht mit Zwang durchsetzen können.
Aber ein Fachverfahren, das über inkrementelles Vorgehen in weniger als einem Jahr eingeführt wird, ist eine Erfolgsgeschichte, welche die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und in der Konsequenz auch die Führungskräfte zu mehr Agilität motiviert.
Die öffentliche Verwaltung steht durch ihre Organisationsstruktur und teils starren Prozessen bei der Agilisierung vor besonderen Herausforderungen im Vergleich zur freien Wirtschaft. Wie gehen Sie mit damit um?
Es geht uns nicht darum, eine vollständig agile Organisation aufzubauen – das ist auch deshalb nicht sinnvoll, da wir unsere Aufträge aus dem Auftrag zur kommunalen Daseinsvorsorge ableiten. Stattdessen arbeiten wir an einer Transition in den Projekten und ihrem Umfeld.
Die Stadtverwaltung ist durchaus zur Agilisierung fähig - wichtig bleiben klare Vorgaben, an die wir uns halten müssen. Agilität muss sich daher immer einen Korridor innerhalb eines konventionellen Umfeldes suchen, um so viel wie möglich zu verbessern.
Was bedeutet das konkret?
Wir haben gesetzliche Vorgaben, denen wir folgen müssen und die u. U. agiles Arbeiten erschweren oder erst gar nicht möglich machen. Beispielsweise funktionieren Vergabe- bzw. Ausschreibungsprozesse noch nicht agil. In unseren Projekten gibt es zudem viele Schnittstellen zu externen Beteiligten und Stakeholdern. Wenn davon einer nicht agil arbeiten kann oder möchte, erschwert dies möglicherweise bereits die Vertragsgestaltung, sowie das agile Arbeiten unsererseits.
Was uns generell von der reinen Agilität unterscheidet ist, dass nach wie vor die Rolle der Projektleitung auch in den agilen Projekten existiert. Es gibt gemäß Definition Aufgaben, die weder bei einem Scrum Master noch einem Product Owner liegen. Der Projektleiter liefert Statusberichte ab, verhandelt Ressourcen oder wandelt agile Ergebnisse in klassische Aussagen für die Kommunikation nach außen um.
Kompromisse müssen eingegangen und akzeptiert werden. Es gibt keine hundertprozentige Agilität und das ist auch in Ordnung.
Wie entscheiden Sie, ob ein Projekt agil oder klassisch durchgeführt wird?
Grundsätzlich beginnt die Einschätzung mit der initialen Projektberatung, spezifisch für die Aufgabenstellung eines Projektes. Die Kriterien sind dabei nicht immer die gleichen. Wir nutzen hierfür messbare Kriterien z. B. nach der Stacey Matrix.
Wenn ein Teil der Anforderungen unklar ist, die Stakeholder unterschiedliche Vorstellungen der Anforderung haben oder die Plattform noch unbekannt ist, dann spricht alles für Agilität, gemäß Ansätzen wie dem frühen Scheitern oder sich inkrementell voranzutasten.
Anders verhält es sich bei einer neuen gesetzlichen Vorgabe, die in mehreren städtischen Anwendungen eingeführt werden muss, wie die Anrede für das dritte Geschlecht. Das Umfeld und die Anforderung sind bekannt und eindeutig. Die Umsetzung bietet wenig Spielraum.
Hier ist Agilität nicht zwingend erforderlich und die Entscheidung fällt nach der Stacey Matrix auf das klassische Vorgehen.
Auch das Umfeld ist entscheidend. Wenn ein Projektauftrag durch die Auftraggeberin oder den Auftraggeber bereits mit einer geringen Affinität zur Agilität formuliert ist, dann ist dies möglicherweise auch im Lenkungskreis erkennbar. Wenn Agilität nicht erwünscht ist, sollte man diese auch nicht erzwingen.
In der initialen Projektberatung nutzen wir auch weiche Kriterien für den Entscheidungsprozess. Ist das Team beispielsweise im Rahmen der Rollenbesetzung fähig, einen Product Owner zu benennen? Ein Product Owner ist entgegen der klassischen Rollenzuordnung u.U. für mehrere Bereiche zuständig. In der Agilität sollten die Rollen danach verteilt werden, wie weit sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Aufgaben zutrauen und nicht, weil sie eine spezielle Bewertungsrolle haben.
Wir verwenden zusätzlich einen Fragenkatalog in der initialen Beratung. Zudem hat sich über die Zeit hierfür aber auch ein gewisses Gespür für die Einschätzung entwickelt.
Nach wie vor liegt Deutschland bei digitalen Verwaltungsdienstleistungen im EU-Vergleich unter dem Durchschnitt. Kann Agilität ein Mittel sein, um die Digitalisierung voranzutreiben?
Wir sind vorhin bereits auf das Verständnis für den Begriff Agilität eingegangen. Man sollte vorsichtig sein, den Begriff mit dem der Digitalisierung zu vermischen. Digitalisierung ist durch die Pandemie beispielsweise mit der Möglichkeit des Home Office stark vorangetrieben worden.
Digitalisierung ist definitiv ein wichtiger Faktor für die öffentliche Verwaltung. Ein Beispiel: Die Beantragung eines Führerscheins wird deutlich bequemer durch ein digitales Termin- oder Service-Angebot anstatt des klassischen Nummernziehens in der Behörde. Agilität hingegen findet vor allem noch in internen Projekten statt. In den Linienprozessen der öffentlichen Verwaltung ist diese oft schwierig umzusetzen. Ein Hund kann bei der Gemeinde nicht iterativ angemeldet werden - aber eine digitale Anmeldung – das geht!
Tauschen Sie sich mit anderen Organisationen aus?
Der Austausch mit anderen Bereichen ist uns sehr wichtig, v.a. auch mit der Wirtschaft.
Wir haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass große Formate, wie Kongresse, weniger Mehrwert bringen als individuelle Vernetzungen. Auf einer Schulung zum Agile Coach tauscht man sich beispielsweise mit den anderen Teilnehmenden aus, die ähnliche Erfahrungen oder Herausforderungen haben – egal ob im öffentlichen Sektor oder in der Wirtschaft. Diese Art der Vernetzung ist für uns besonders wertvoll.
Dabei stellen wir immer wieder fest, dass wir uns als Stadtverwaltung beim Thema Agilität vor Unternehmen aus der Wirtschaft absolut nicht verstecken müssen.
Welche Pläne hat die LHM in Bezug auf Agilität für die Zukunft?
In den Jahren 2020 und 2021 haben wir die Leitplanken für agile Projekte entwickelt. Bis 2023 wollen wir diese entwickelten Ergebnisse verbreiten und bei der Umsetzung unterstützen.
Seitens unseres IT-Referenten haben wir den Auftrag, die Anzahl der derzeit etwa 20 agilen Projekte bis 2024 zu verdreifachen, nicht nur Projekte der IT - sondern auch in den Fachreferaten.
Das Ziel ist, dass Agilität – sofern es sich um geeignete Projekte handelt - der Default-Fall für jeden Projektauftrag ist und der Wunsch nach einem klassischen Vorgehen konkret begründet werden muss.
Außerdem hat die LHM KPIs zur Messung des agilen Reifegrads von Projekten entwickelt. Dadurch können wir die Entwicklung agiler Projekte über die Jahre hinweg monitoren und strukturiert bewerten.
Vielen Dank Herr Burger für das interessante Gespräch und den spannenden Austausch.
Im Interview
Über Johannes Burger
Johannes Burger, geboren am 15.01.1965 in Freising, Diplom-Informatiker.
Nach dem Studium an der Technischen Universität Karlsruhe zog es Herrn Burger zu einem Münchner Softwareunternehmen, das ihn in den 1990er Jahren mit der Gründung und Leitung des Schweizer Tochterunternehmens betraute.
Danach war er für unterschiedliche Beratungsunternehmen tätig, vor allem als Projektmanager im Banken- und Versicherungsumfeld.
2015 erfüllte sich Herr Burger einen lang gehegten Berufswunsch mit dem Wechsel zur Landeshauptstadt. Zunächst verantwortete er dort den Aufbau des Online-Terminmanagements für unterschiedliche Behörden des Kreisverwaltungsreferats.
Seit Anfang 2020 ist er strategisch mitverantwortlich für die Einführung von Agilität in städtischen IT-Projekten.