"Die letzten zwei Jahre waren eine einzige Erfolgsstory für uns."
Unser Wirtschaftssystem ist auf Wachstum gepolt. Er steht für den Erfolg eines Unternehmens und dessen Zugkraft am Markt. Wachstum ermöglicht eine stetige wirtschaftliche Weiterentwicklung, schafft Arbeitsplätze und Stabilität. Warum es dennoch sinnvoll sein kann zu entschleunigen und warum sich Erfolg oftmals besser über andere Werte definieren lässt als über die reinen Zahlen einer Bilanz, darüber haben wir mit Michael Seipel gesprochen.
Lieber Michael, Cassini ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Warum ist das so und was sind die Erfolgsfaktoren?
Die Nachfrage nach hochwertigen Beratungsleistungen in der Management- und Technologieberatung ist in den letzten Jahren in Deutschland stark angestiegen, im letzten Jahr um über 10 Prozent. Die Gründe dafür sind vielfältig: Viele unserer Klienten schaffen es beispielweise nicht, eigenes Personal aufzubauen oder sind aufgrund der gesamtwirtschaftlichen Lage vorsichtig und greifen lieber auf externes Personal zurück, das man im Zweifel schneller wieder reduzieren kann. Ein anderer Grund für den gestiegenen Beratungsbedarf liegt in der zunehmenden Komplexität von technologischen Lösungen und der Kurzlebigkeit von Geschäftsmodellen – wir leben in einer VUCA-Welt.
Würden wir die gestiegene Nachfrage vollständig bedienen, wären wir noch viel stärker gewachsen. Limitierender Faktor bei uns ist die Gewinnung von neuen Beraterinnen und Beratern. Wir können aber seit einigen Jahren sehr attraktive Angebote in einem anspruchsvollen und fordernden, gleichzeitig aber angenehmen Umfeld aussprechen und schaffen damit unser aktuelles Wachstum aufrecht zu erhalten.
Wie stehst Du persönlich zum Thema Wachstum?
Persönlich habe ich eine gesunde Skepsis zu Wachstum. Einem „größer-schneller-weiter“-Hype als Selbstzweck bin ich noch nie nachgelaufen. Ich habe mir gerade den neuen Bericht des „Club of Rome“ gekauft, der ja die Grenzen des planetaren Wachstums erläutert und daraus auch Schlussfolgerungen zieht. Das beschäftigt mich auch bei der Bewertung von Wachstum an sich.
Beim Wachstum von Cassini Consulting sprechen wir aber von einer anderen Dimension: Wenn wir 20 Prozent mehr Menschen einstellen, führt das ja nicht zu einer Steigerung der Geburtenrate und damit zu planetaren Herausforderungen. Sondern es führt dazu, dass diese Menschen bei uns und nicht bei einem anderen Wirtschaftsunternehmen arbeiten. Damit ist Wachstum kein reiner Selbstzweck. Denn genau diese Menschen können in ihrem Wirken auch Nachhaltigkeitsaspekte in ihre Projekte bei unseren Kunden einbringen und unsere Gesellschaft ein bisschen besser machen. Unsere aktuell laufende Einführung eines Umweltmanagementsystems nach ISO 14001 wird diesen Aspekt übrigens nochmal deutlich stärken.
Jenseits des wirtschaftlichen Erfolges spüre ich auch einen deutlich stärkeren Drive und eine positive Aufbruchstimmung. Das ist toll.
Wie bewertest Du die letzten zwei Jahre aus deiner persönlichen Sicht – mit aller Ambivalenz, die diese Zeit innehatte?
Zu Beginn der Corona-Pandemie hätte ich nie geglaubt, dass wir es schaffen, eine so nahtlose Integration von über 250 (!) neuen Beraterinnen und Beratern in die Cassini Consulting zu schaffen. Und ich hatte große Bedenken, dass wir durch den vollständigen Home-Office-Ansatz viel von dem verlieren, was uns ausmacht.
Ich wurde in beiden Punkten sehr positiv überrascht. Wir haben gelernt, den Besuch im Büro und den Austausch an der Kaffeemaschine besser wertzuschätzen und expliziter zu nutzen. Und wir haben einige Zöpfe abgeschnitten, an die wir uns vorher nicht getraut haben.
Jenseits des wirtschaftlichen Erfolges spüre ich auch einen deutlich stärkeren Drive und eine positive Aufbruchstimmung. Das ist toll.
Welche Auswirkungen hat es zum Beispiel auf das Thema Karriere bei Cassini?
Aus Sicht des oder der Einzelnen ist das Wachstum des eigenen Unternehmens zwingend erforderlich, wenn man sich weiterentwickeln möchte. Denn ohne Wachstum gibt es auch keinen Bedarf an der Besetzung von attraktiven Positionen – denn die sind ja alle bereits besetzt. Und ohne Wachstum funktionieren auch unsere Karrierepfade nicht: Würden wir Promotionen durchführen, ohne zu wachsen, dann hätten wir irgendwann nur noch Senior Partner bei uns – ein schwieriges Geschäftsmodell.
Natürlich ergeben sich durch Wachstum auch Herausforderungen. Und manche Dinge ändern sich auch dauerhaft. Das adressieren wir, damit gehen wir um, dazu entwickeln wir uns kontinuierlich weiter. Früher wurden Promotionen zum Beispiel inklusive ausführlicher Laudatio auf der zentralen Weihnachtsfeier durchgeführt – vor dem Essen. Von Jahr zu Jahr zog sich dieser Prozess aufgrund des Wachstums weiter in die Länge, bis dann mal ein Teilnehmer ohnmächtig wurde, weil es zu lang dauerte. Wir haben den Prozess danach angepasst. Inzwischen schwimmen wir vor der Welle und haben ein deutlich agileres System, im dem wir Dinge antizipieren und frühzeitig und in einer hohen Frequenz anpassen. Das ist manchmal anstrengend, aber immer spannend!
Welche Gründe stehen hinter der Vorgabe jährlich um 20 Prozent wachsen zu wollen? Und wenn der Markt aus sich heraus schon wächst, wieso muss man dann noch aktive Maßnahmen einleiten?
Wir wollen attraktive Karriereperspektiven bieten. Je schneller wir wachsen, desto mehr Angebote können wir unterbreiten.
Warum keine 30 Prozent: Weil wir natürlich die Organisation nicht überfordern dürfen. Und damit meine ich nicht die Administration, sondern unsere Organisation als soziales Ökosystem. Unsere Werte werden von Person zu Person transportiert, die 20 Prozent Wachstum bringen uns da immer wieder an die Grenzen. In unserem Lead-To-Grow-Projekt adressieren wir genau dieses Thema. Nicht, um danach schneller wachsen zu können, sondern um unseren Qualitätsanspruch im Wachstum aufrecht zu erhalten.
Gibt es schon erste Erfolgsstorys?
Die ganzen zwei letzten Jahre waren eine Erfolgsstory: Aus sechs Segmenten im Jahr 2019 sind inzwischen 17 geworden. Statt sechs Business Leads konnten wir diese Rolle nun 17 Menschen anbieten. Von den ganzen xLeads (Cassinis, die entweder für Themen, Kunden oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich sind), die teilweise mit sehr jungen Jahren Führungsaufgaben übernehmen durften, will ich gar nicht reden. Wir haben zwei Partner am externen Markt für uns begeistern können und zwei Partner aus den eigenen Reihen ernennen dürfen. Darunter endlich wieder eine Frau in einer Partner-Rolle.
Wachstum hat auch dazu geführt, dass wir Möglichkeiten im Bereich der Flexibilität anbieten können, die wir früher nicht hatten: Wir haben bereits mehrere Segmente, die Bewerbenden durch ihren lokalen Fokus eine extrem geringe Reisenotwendigkeit abverlangen. Wir konnten damit Menschen für uns gewinnen, für die wir früher nicht attraktiv gewesen wären.
Ich könnte endlos weitererzählen mit Beispielen zur Nutzung unserer Rollen, mit Aussagen zu mehr Resilienz oder mit strategischen Klienten-Projekten, die wir nur deshalb gewinnen konnten, weil wir am Markt das entsprechende Auftreten haben, das wir uns nur durch unsere Größe und Marke erarbeitet haben.
Wir bieten durch die Vielzahl an Rollen und Segmenten mehr und ganz unterschiedliche Karrierewege für unterschiedlichste Persönlichkeiten.
Wie ist in diesem Kontext das Thema Diversität bei uns eingebettet? Bedeutet das rasante Wachstum eher eine Begünstigung oder eine Herausforderung?
Ich würde zunächst ungerne von einem „rasanten“ Wachstum sprechen. Das klingt unkontrolliert. Wir wachsen hingegen fokussiert und gesteuert.
Diversität wird durch unser Wachstum positiv unterstützt, aber auch durch unser agiles, durchlässiges System, das persönliche Kungeleien und den damit verbundenen Unconscious Bias reduziert. Wir bieten durch die Vielzahl an Rollen und Segmenten mehr und ganz unterschiedliche Karrierewege für unterschiedlichste Persönlichkeiten.
Auch hier gilt: Wir können Angebote aussprechen, von denen wir früher nur zu träumen wagten. Mütter (aber auch Väter) kehren nach ihrer Elternzeit oftmals in Teilzeit und mit sehr eingeschränkten Reiseanforderungen zurück, statt der Beratung den Rücken zu kehren. Wir haben inzwischen ein Potpourri unterschiedlichster Nationen bei uns an Board. Wir können jedem gleichermaßen durch Wachstum Perspektiven bieten und damit die Führungsriege der „alten, weißen Männer“ langsam, aber sicher aufbrechen.
Trägt unser Wachstum auch zur Erfüllung unserer Unternehmens-Mission „Guiding Ahead“ bei?
Ja. Wir haben damals formuliert, wie wir gesehen werden wollen. Welche Art von Projekten wir realisieren wollen. Wann uns Kunden anfragen sollen. Heute sind wir diesem Anspruch bereits sehr viel nähergekommen. Wir werden aktiv angefragt – und zwar strukturell und in erheblichem Maße. Das gab es früher nicht.
Heute können wir uns die Projekte aussuchen. Dabei steigt die Frage nach ihrer Relevanz. Und damit auch unser Impact. Durch unsere Projekte nehmen wir aktiv Einfluss auf unsere Gesellschaft und die Art und Weise, wie wir in Deutschland leben und wirken.
Welche Herausforderungen siehst Du für die Zukunft?
Ich freue mich auf die Zukunft. Wir stehen vor großen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen, wir stecken mitten in der Klimakrise. Cassini kann und muss einen Beitrag dazu leisten, die sich daraus ergebenden Fragen zu beantworten. Daran sollten wir weiterarbeiten, das ist Kern meiner Motivation.
Und ganz operativ: Natürlich werde ich mit unserem weiteren Wachstum als COO noch einen ganzen Schwung an Prozessen und Tools zukunftsfähig und skalierbar machen müssen. Aber sonst wäre das Leben ja auch langweilig.
Danke dir für das Gespräch!