Nicht reden, sondern machen.
Für Thomas Zilch war es die Parole während der Corona-Pandemie. Was der Hauptabteilungsleiter IT der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) aus dieser Zeit mitgenommen hat und wie er die Schnittstelle zwischen IT und Fachbereich sieht, schilderte er uns im Frühjahr 2021 im Gespräch.
Herr Zilch, seit mehr als acht Jahren leiten Sie die BGHW IT. Wie würden Sie aus Ihrer Erfahrung das Spannungsfeld zwischen IT und Fachbereich beschreiben?
Es geht darum, die knappen Ressourcen der IT und des Fachbereichs so einzusetzen, dass die Anforderungen mit dem besten Kosten-Nutzen-Verhältnis umgesetzt und andere Anforderungen im gegenseitigen Einvernehmen und Verständnis auch mal fallen lässt. IT verstehe ich nicht als Erfüllungsgehilfe der Fachbereiche, denn wir verfolgen natürlich auch eigene Ziele, die mit denen der Fachbereiche vereint werden müssen. Das ist das Dauerspannungsfeld, in dem wir uns täglich bewegen. Was uns dabei hilft, ist ein vernünftiges Anforderungs- und Projektmanagement, um Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen durchführen zu können und ein gewisser Pragmatismus.
Wenn Sie einmal zurückblicken, wie hat sich die Zusammenarbeit zwischen IT und Fachbereich bei der BGHW entwickelt?
Seit meinem Antritt 2013 haben wir uns Schritt für Schritt vom gescholtenen Erfüllungsgehilfen zum Partner auf Augenhöhe entwickelt. In den Anfängen ging es um die Stabilisierung des IT-Betriebs. Die BGHW ist wie alle Berufsgenossenschaften aus einer Fusion hervorgegangen. Die Zusammenlegung von Organisationen, die ihre gesetzlichen Aufgaben erfüllen müssen, erforderte auch eine einheitliche und ausfallsichere IT. Wir haben im laufenden Betrieb dafür gesorgt, dass Prozesse weniger personalintensiv abliefen und gleichzeitig die Zufriedenheit bei den Anwendern stieg. Der nächste Schritt war dann die Standardisierung, also die Beseitigung typischer Altlasten. Durch die zwei Direktions-Standorte Mannheim und Bonn hatten wir zwei Rechenzentren, zwei IBM-Hosts und ein Sammelsurium verschiedenster Server. Diese Infrastruktur haben wir nach und nach im Rechenzentrum Bonn konsolidiert.
Darauf folgte die systematische Modernisierung. Bei der Beschaffung von Soft- und Hardware haben wir uns dabei nicht mehr mit einzelnen Komponenten auseinandergesetzt, sondern angefangen, in Generationen zu beschaffen. Die Konsolidierung war erfolgreich und bildet die Basis für die Neugestaltung der Zusammenarbeit mit den Fachbereichen. Als IT der BGHW fühlen wir uns als Lotsen. Ein Lotse ist nicht der Kapitän, der den Kurs vorgibt. Das ist die Aufgabe der Geschäftsführung. Er ist auch nicht der erste Steuermann. Diese Funktion übernehmen die Fachbereiche. Aber wenn ein Kapitän in unbekannte Gewässer fährt, holt er sich ein Lotsen an Bord, der ihm die Untiefen, die Klippen und vielleicht auch lauernde Meeresungeheuer aufzeigt und einen sicheren Kurs vorschlägt. So sehe ich unsere Rolle als IT. Wir schauen von oben auf das Unternehmen und damit auf alle Prozesse und sehen sehr gut, wo die Dinge nicht zusammenpassen. Wir blicken auch darauf, welche Technologien sinnvoll in der BGHW eingesetzt werden können und welche nicht. Wir evaluieren Hype-Themen wie zum Beispiel KI oder Chatbots. Die Erkenntnisse fließen dann in Projekte oder strategische Entscheidungen ein.
Welche Erwartungshaltung haben Sie aus Sicht der IT an den Fachbereich?
Es ist dringend notwendig, dass die IT nicht nur Technologien beherrscht, sondern sie muss auch den Fachbereich im Detail verstehen. Mir persönlich hilft es immer sehr, wenn ich mich gedanklich auf den Stuhl der Fachbereiche setze und Anforderungen oder Probleme nicht mit der Tech- und Nerdbrille betrachte. Meine Erwartungshaltung ist aber auch, dass sich die Fachbereiche ihrerseits mit Technologien befassen. Ein anderer Wunsch ist, dass sie ausreichend Ressourcen in IT-Projekten einbringen. Die Zeiten, in denen Fachbereich und IT sich aus großer Entfernung gegenseitig die Anforderungen durch die Tür geworfen haben, sind zumindest in der BGHW seit längerer Zeit vorbei. Wenn ein Fachbereich neue Software oder einen neuen Prozess möchte, dann muss er sich auch die Zeit nehmen, mit seinen besten Leuten daran mitzuarbeiten. Und das trotz aller Kernaufgaben, die zu bewältigen sind. Man findet immer eine Lösung, wenn man bereit ist, sich einander anzunähern und miteinander zu reden.
Das A und O sind eine partnerschaftliche Kommunikation und viel gegenseitiges Verständnis. Unser gemeinsames Ziel ist es, die BGHW weiterzuentwickeln. Das kann weder der Fachbereich noch die IT allein bewältigen.
Wodurch wird eine wertschöpfende Zusammenarbeit der IT und des Fachbereichs beeinflusst und was sind hierbei die kritischen Erfolgskriterien?
IT ist kein Selbstzweck, aber wir haben natürlich auch eigene IT-Ziele wie Standardisierung und Modernisierung, die sich erstmal auf den Fachbereich nicht unmittelbar auswirken. Es geht um Wirtschaftlichkeit, Performance, Stabilität und das Schaffen von neuen Möglichkeiten.
Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass auch der Fachbereich sich mit uns abgleichen muss. Wir haben z.B. im letzten Jahr entschieden, dass krisengeschwächte Mitgliedsbetriebe unter bestimmten Bedingungen eine Beitragsstundung beantragen können. Was vielleicht einfach klingt, musste für 380.0000 Mitgliedsunternehmen umgesetzt werden. Berechtigte herauszufiltern, ein digitales Antragsformular anwenderfreundlich ins Web zu stellen und den Stundungsprozess in die bestehenden Prozesse, sowohl fachlich als auch technisch einzugliedern, war besonders unter dem damals herrschenden Zeitdruck eine große Herausforderung.
Kritische Erfolgsfaktoren sind für mich eine auf beiden Seiten vorhandene Bereitschaft zur konstruktiven Auseinandersetzung und zur Kooperation.
Welche organisatorischen Voraussetzungen müssen Unternehmen schaffen, um eine erfolgreiche IT-Fachbereichs-Schnittstelle auszubilden?
Im Prinzip gibt es im Alltag zwei Eingangskanäle in die IT. Da ist zum einen das Thema Service Management, also Störungsmeldungen, Problemmeldungen, Bestellungen. Zum anderen gibt es das Thema Anforderungen.
Wir haben uns vor einigen Jahren dafür entschieden, unser Anforderungs- und Projektmanagement selbst zu entwickeln, wohl wissend, dass es vielleicht länger dauert. Aber so haben wir perfekt für uns passende Prozesse schaffen können, um Anforderungen anzunehmen, formal zu prüfen und zu bewerten, auf der Timeline einzusortieren und schließlich in die Umsetzung zu geben. Wird ein Maß an Komplexität überschritten, wird der Anforderung ein Projektmanagement zur Seite gestellt.
Zur Zusammenarbeit mit den Fachbereichen habe ich in meiner IT eine Key-Account-Management eingerichtet: Jeder Fachbereich hat einen dedizierten Ansprechpartner, den eben genannten „Fachbereichsversteher“, der gemeinsam mit seinem Gegenüber Anforderungen erstellt, prüft und die Umsetzung begleitet. All das hilft, Anforderungen sinnvoll zu priorisieren und knappe Ressourcen sinnvoll einzusetzen.
Im Kontext der Zusammenarbeit zwischen IT und Fachbereich wird häufig der Begriff Agilität verwendet. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht und wie geht es mit diesem Thema weiter?
In der Gesetzlichen Unfallversicherung haben sich in den letzten Jahren verschiedene IT-Kooperationen und Anwendergemeinschaften gebildet. Die BGHW zum Beispiel ist Mitglied in der SIGUV-Kooperation, der „Shared Services Interessengemeinschaft für die gesetzliche Unfallversicherung“. Die Kooperationspartner erbringen sich wechselseitig Shared Services. So ist die BGHW unter anderem zuständig für das Thema Dokumenten- und Formularmanagement. Wir stellen die entsprechenden Systeme für die Partner zur Verfügung, betreiben und entwickeln diese auch weiter. So decken wir gemeinsam die grundsätzlichen IT-Bedarfe ab und versuchen darüber, unsere Geschäftsprozesse aneinander anzugleichen. Dennoch hat jede Berufsgenossenschaft auch eigene Anforderungen, die manchmal nicht mit gemeinschaftlicher Einheitssoftware erfüllt werden können.
Wir haben beispielsweise im letzten Jahr gemeinsam mit unserer Präventionsabteilung eine App entwickelt, mit der der Außendienst einen Großteil seiner Aufgaben papierlos mit dem iPad durchführen kann. Die App dockt über Schnittstellen nahtlos an die Fachwendungen an. Durch die Anwendung agiler Methoden und in enger Zusammenarbeit mit dem Fachbereich ist in einem knappen Jahr ein Produkt entstanden, das sich im Fachbereich großer Beliebtheit erfreut. Für Software, die wir selbst entwickeln, sind agile Vorgehensweisen also bereits etabliert. Allerdings ist Agilität auch kein Allheilmittel. Ich kann mir gerade nicht vorstellen, wie wir eine komplett neue Generation einer großen Fachanwendung im laufenden Betrieb agil entwickeln sollte. Während der iterativen Entwicklung müssten Anwender gleichzeitig mit alter und neuer Software arbeiten, was sicherlich nicht nur für die Akzeptanz hinderlich wäre.
Inwieweit ist das Business in die IT-Strategieentwicklung der BGHW eingebunden?
Das Business gibt die IT-Strategie vor. Letztendlich geht es in einer Berufsgenossenschaft darum, stabil und auf wirtschaftliche Art Mitgliedsbeiträge zu erheben, versichertengerechte Leistungen zu erbringen und eine gute Präventionsarbeit zu leisten. Unsere IT-Strategie ist daher mittelfristig schon sehr gut planbar.
Die Pandemie hat gezeigt, dass wir trotzdem Spielräume für unvorhergesehene Veränderungen lassen müssen. Auch kommen immer mehr Schnittstellen zum Datenaustausch der vielen unterschiedlichen externen Partnern. Und letztendlich möchten wir die Digitalisierung unserer internen Prozesse weiter vorantreiben. Insofern ist unser Strategiepapier ein lebendes Dokument, das gemeinsam mit der Geschäftsführung und den Fachbereichen weiterentwickelt wird.
Das Strategiepapier ist für uns der Klebstoff zum Business, setzt aber auch Leitplanken, die bis in die Haushaltsplanung und mittelfristige Projektplanung hineinwirken.
Also, keine Geheimwissenschaft und keine Spezial-Tools. Nur was einfach ist, funktioniert auf Dauer. Das gilt für die Strategie, für die Architektur und für viele andere Themen in der IT.
Auf welche Faktoren legen Sie besonderen Wert im Entscheidungsprozess des IT-Sourcing?
Letztendlich geht es fast immer um „Make or Buy“. Wenn wir kurzfristig für eine konkrete Einzelaufgabe Spezialwissen brauchen, dann holen wir es von extern. Durch unsere Konsolidierungs- und Standardisierungsvorhaben stellt sich auch immer mehr die Frage, ob der Zeitpunkt von altersbedingt ausscheidendem Personal mit dem Ablösezeitpunkt einer bestimmten Technologie zusammenpasst. Wenn das Personal länger bleibt als die Technologie, ist es gut. Dann kann das Personal, sofern geeignet, für andere Themen eingesetzt werden. Wenn das Personal aber früher geht, holt man sich besser einen externen Partner zur Überbrückung.
Wichtig ist mir, dass solche Entscheidungen auch richtig kommuniziert werden. Man braucht sich dann nicht dem Vorwurf aussetzen, dass die interessanten Themen immer nur von externen Kräften bearbeitet werden.
Unsere Befragung zeigt, dass die IT verstärkt nur als Dienstleister und Unterstützer wahrgenommen wird, nicht aber als Innovator. Wie würden Sie die interne Wahrnehmung der BGHW IT beschreiben und wie soll diese sich in der Zukunft ggf. verändern?
Während der initialen Entwicklung unserer IT-Strategie ist der Begriff „Lotsenfunktion“ entstanden, die ich bereits erläutert habe. Um Innovationen zu fördern, haben wir zudem ein Innovationsteam als dauerhafte Arbeitsgruppe auf die Beine gestellt. Die Mitglieder wurden in gängigen Innovations- und Kreativtechniken ausgebildet. So entstehen wirklich tolle Ideen, die sicherlich nie in Form einer regulären Anforderung gekommen wären. Wir sind sehr stolz auf das Innovationsteam und verstärken es von Zeit zu Zeit temporär mit weiteren Mitarbeitern.
Wie hat sich die Pandemie auf die BGHW und insbesondere auf die Ansprüche an die IT ausgewirkt und welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Wir sind im öffentlichen Dienst sehr vielen Regeln unterworfen. Trotzdem haben wir es im ersten Lockdown sehr schnell geschafft, die meisten unserer 1.800 Mitarbeiter ins Homeoffice zu bringen und so die Arbeitsfähigkeit der BGHW auch unter diesen besonderen Bedingungen sichergestellt. In unserem Corona-Krisenstab, bestehend aus Geschäftsführung und Hauptabteilungsleitern, wurden sehr schnell die notwendigen Entscheidungen getroffen, ohne, wie zu „normalen“ Zeiten manchmal üblich, mehrere Besprechungen durchzuführen. „Nicht reden, sondern machen“ war die Parole. Ich werde daran arbeiten, die pragmatischen Vorgehensweisen, die wir in der Pandemie gelernt habe, in die Zeit nach der Pandemie hinüberzuretten.
Thomas Zilch
Zur Person: Thomas Zilch verantwortet seit 2013 die IT-Strategie, die Weiterentwicklung und den IT-Betrieb der BGHW sowie mehrere Shared Service-Angebote für andere Unfallversicherungsträger. Zuvor arbeitete er zwölf Jahre lang als Bereichsleiter in der IT der Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse. Unter seiner Führung wurde die Fusion der IT mit drei anderen Berufsgenossenschaften sowie der Aufbau eines SAP-Shared Service für Unfallversicherungsträger realisiert. Herr Zilch studierte als Zeitsoldat Elektrotechnik an der Universität der Bundeswehr in München.
Zum Unternehmen: Die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik – kurz: BGHW – ist Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung für Unternehmen und deren Beschäftigte im Handel und der Warenlogistik. Dazu gehören zum Beispiel Betriebe des Groß- und Einzelhandels, Handelsvertretungen, Kellereiunternehmen, der Schrotthandel, aber auch Verlage sowie Speditions- und Hafenunternehmen. Die BGHW hat den gesetzlichen Auftrag, bei Berufskrankheiten, Arbeits- oder Wegeunfällen Prävention und Rehabilitation für die 4,6 Millionen Beschäftigten der 380.000 Mitgliedsbetriebe zu leisten.