"Digitalisierung wird das alles entscheidende Schmiermittel im Energiesystem der Zukunft werden." - Interview mit Dr. Tim Meyer
Dr. Tim Meyer ist Vorstandsmitglied der Naturstrom AG und verantwortet alle Aktivitäten rund um eine ökologische und sektorenübergreifende Wärme- und Stromversorgung aus verbrauchsnahen Anlagen. Wir sprachen mit ihm darüber, ob bis 2030 eine Vollversorgung mit Ökostrom machbar ist und welche Rolle die Digitalisierung bei der Energiewende spielt.
Lieber Herr Dr. Meyer, Sie sind Vorstandsmitglied bei Naturstrom, wie sieht Ihr Aufgabenspektrum aus?
NATURSTROM ist sehr breit aufgestellt und längst nicht mehr nur ein Ökostrom- und Biogasanbieter. Ich kümmere mich im Vorstand um alle Geschäftsfelder, die mit einer dezentralen Versorgung aus erneuerbaren Energien direkt vor Ort zu tun haben. Königsdisziplin ist die sektorenübergreifende Bereitstellung von Strom, Wärme, Kälte und E-Mobilitätsinfrastruktur für ganze Quartiere – zu möglichst großem Anteil aus Erzeugungsanlagen vor Ort und natürlich mit erneuerbaren Energien. Für solche Vorhaben entwickeln wir die Konzepte, die wir dann nicht nur baulich umsetzen, sondern auch den Betrieb der Anlagen und die Belieferung der Kundinnen und Kunden übernehmen.
In meine Zuständigkeit fallen darüber hinaus alle Aktivitäten rund um Konzeption, Realisierung und Betrieb von Nahwärmenetzen, die in meist ländlichen Kommunen private, kommunale und gewerbliche Gebäude mit nachhaltiger Wärme versorgen. Außerdem Mieterstromprojekte, Versorgungslösungen für Unternehmen und Dienstleistungen rund um ein intelligentes Energiedatenmanagement. In all diesen Projekten erleben wir den großen Wert einer hohen Identifikation der Menschen mit besseren, weil konkret vor Ort bereitgestellten und ökologischen Energieangeboten. Dieser Zuspruch treibt mich enorm an. Denn ich bin überzeugt, dass die Energiewende nur als gesamtgesellschaftliches Projekt, das von einer starken Basis getragen wird, zum Erfolg werden kann.
Deutschland ist bei erneuerbaren Energien bisher nur unteres Mittelmaß in Europa. Mit ihnen wurden laut Umweltbundesamt im Jahr 2020 nur 19,6 Prozent des Bruttoendenergieverbrauchs abgedeckt. Was denken Sie? Ist bis 2030 eine Vollversorgung mit Ökostrom machbar? Welchen Beitrag leistet NATURSTROM dabei?
Klimaneutralität besteht aus einer Vollversorgung aller Sektoren aus erneuerbaren Energien bei gleichzeitiger Umstellung aller industriellen Prozesse, die Klimagase freisetzen. Für beides muss die neue Bundesregierung jetzt umgehend die erforderlichen, wirklich großen Weichenstellungen vornehmen. Je schneller wir dabei die ersten großen Schritte schaffen, desto mehr Zeit haben wir, die letzten Prozent Emissionsvermeidung zu erreichen. Am Ende geht es darum, das uns verbliebene, kleine CO2-Budget nicht zu überziehen, das uns zum Erreichen des 1,5° Zieles bleibt. Die Diskussion um 2030, 2035 oder 2040 als Enddatum der letzten CO2-Emissionen geht daher aus meiner Sicht etwas am Ziel vorbei und wird allzu oft als Phantomdiskussion missbraucht, um bei der Transformation unseres Energiesystems vom Tempo zu gehen.
Ein Beispiel: Werden wir es schaffen, in nur neun Jahren unseren kompletten Gebäudebestand zu sanieren und auf eine nachhaltige Wärmeversorgung umzustellen? Daran glaube ich persönlich nicht, dafür werden allein schon so vermeintlich banale Faktoren wie die Kapazitäten von Fachplaner:innen und Handwerker:innen oder auch der notwendigen Komponenten zu stark limitierend wirken. Aber sollten wir genau jetzt alle Förderungen für veraltete Technologien abschaffen, die richtigen Anreize für klimaneutrale Lösungen und Teilhabe der Menschen setzen, damit die Wirtschaft die notwendigen Innovationen und Kapazitäten schafft? Unbedingt! Ich habe großes Vertrauen, dass die Transformation schneller gelingen kann, als die meisten denken, wenn wir sie nur endlich wirklich wollen und entfesseln.
Und genau hier liegt unser konkreter Beitrag bei NATURSTROM: Wir packen die Energiewende gemeinsam mit den Unternehmen und Menschen vor Ort an und gehen auch die Wege, die andere noch nicht gehen können oder wollen. Unsere über 300.000 Kund:innen geben uns über einen eingebauten Fördermechanismus mit jeder Kilowattstunde bezogener Energie den Auftrag, Wind- und Solarparks zu errichten, Lösungen für Direktlieferungen von Solarstrom oder nachhaltiger Wärme und Kälte zu entwickeln und Menschen vor Ort einzubinden und an unserer „Energie mit Zukunft“ teilhaben zu lassen. So waren wir vor vielen Jahren der erste und einzige Ökoenergieanbieter, der trotz des Mehraufwandes direkt Strom aus Wind- und Solarparks in seine Lieferungen integriert hat. Heute sind wir Pionier bei Direktstromlieferungen vor Ort auch im Geschosswohnbau, dem sogenannten Mieterstrom, und erproben den Einsatz von Stromspeichern in großen Solarparks.
Neben Stromlösungen bieten Sie auch Mobilitätskonzepte an – von Ladesäulen für E-Autos bis hin zu E-Bikes im Monatsabo. Wie ist ihre Vision eines Stromversorgers der Zukunft?
Sie haben es mit der vorherigen Frage ja selbst ins Spiel gebracht: Der Anteil der Erneuerbaren muss in allen Sektoren zügig und drastisch erhöht werden, damit wir noch eine Chance haben, die Klimaziele in Deutschland zu erreichen. Lösungen für eine wirklich nachhaltige Mobilität sind da ein wichtiger Baustein. Und das bedeutet auch, nicht allein Autos von Verbrenner- auf Elektromotoren umzurüsten, sondern grundsätzlich zu hinterfragen, welche Art von Mobilität zu unseren Bedürfnissen passt.
Gerade in Städten kann die Lösungen viel häufiger sein, auf ein elektrisch unterstütztes Lastenrad anstatt ins Auto zu steigen. Und da ich trotzdem nicht automatisch das Lastenrad besitzen und es 365 Tage im Jahr vor der Haustür stehen haben muss, bieten wir verschiedene Alternativen vom Sharing bis hin zum Abo-Rad an.
Für einen modernen Energieversorger – oder eben einen „Stromversorger der Zukunft“, wie Sie es nennen, – gehört es daher aus unserer Sicht dazu, für die nun beginnende Elektrifizierung des Verkehrssektors Lösungen anbieten. Deswegen haben wir uns bei NATURSTROM schon vor mehreren Jahren mit ersten Kooperationen und Produkten auf den Weg gemacht, um auch bei diesem Teil der Transformation vorne mit dabei zu sein.
Welche Rolle spielt die Digitalisierung bei der Energiewende? Was sind besondere Herausforderungen in dem Zusammenhang?
Digitalisierung wird das alles entscheidende Schmiermittel im Energiesystem der Zukunft werden. Gerade für die Optimierung von dezentralen Energiesystemen, wie wir sie beispielsweise in Quartieren oder für Unternehmen umsetzen, ist die digitale Erfassung und Auswertung der örtlichen Energieerzeugung und -verbräuche wichtig. Allein über die Transparenz der Energiedaten erreichen wir in Projekten Einsparungen von bis zu 25 Prozent – durch ganz triviale Optimierungen, weil beispielsweise schlecht eingestellte Heizungs- und Lüftungssysteme oder durchlaufende Beleuchtungen sichtbar werden. Aber auch für die Planung von Gebäuden und Energiesystemen sind belastbare und konsistente Daten entscheidend. Der digitale Zwilling wird ein wichtiges Werkzeug werden. Gerade in sektorengekoppelten Systemen muss dabei der Einsatz von Komponenten verschiedenster Hersteller nahtlos und einfach möglich werden und müssen Inbetriebnahme und Betrieb auch ohne Spezialstudium möglich sein. Hier steckt eine besondere Herausforderung, die herstellerübergreifend gelöst werden muss.
Gleichzeitig lauert in der Digitalisierung eine gefährliche Kehrseite, die wir ebenfalls rechtzeitig adressieren müssen: die Fragen rund um Dateneigentum und -souveränität sowie um die Transparenz der algorithmischen Optimierung. Die massive Bündelung von Energieerzeugungs- und verbrauchsdaten erlaubt Betreibern großer Datenplattformen grundsätzlich die Manipulation von Kund:innen und Märkten. Die negativen Effekte sind aus der rein digitalen Welt bekannt. Am Ende muss die schöne neue Welt den Menschen dienen und deren Energiebedürfnisse befriedigen, anstatt neue, vielleicht besonders lukrative Energiebedürfnisse zu erschaffen. Übertragen auf das Energiesystem muss zusätzlich die Systemstabilität berücksichtigt werden: Sollte die reale Energiewelt eines Tages tatsächlich automatisiert über stark aggregierte Erzeugungsportfolios gesteuert werden, können fehlerhafte Algorithmen oder fehlgeleitete Interessen sonst zum Blackout führen.
Unsere Abschlussfrage: Was tragen Sie persönlich für eine nachhaltige Zukunft bei? Und was kann jeder Einzelne tun?
Ich bin sicherlich kein Role Model in Sachen nachhaltiges Leben, aber vielleicht immerhin oberer Durchschnitt. Aus meiner Sicht das Wichtigste: dass man den Spaß an den Dingen entdeckt, die etwas abseits der ausgetretenen Pfade liegen und dann auch noch nachhaltig sind. Fahrrad und ÖPNV sind in der ganzen Familie erste Wahl. Meine Strecke zur Arbeit ist mit 13 km nicht kurz, aber als körperlicher Ausgleich und mit Blick auf die Elbe per Fahrrad ein echter Genuss! Einkäufe erledigen wir per Lastenrad – wer damit mal gefahren ist, hat sowieso keine Lust mehr auf Parkplatzsuche und Tiefgaragen. Flüge vermeiden wir bis auf sehr wenige und sehr besondere Anlässe alle paar Jahre. Und dass fleischlos oder fleischarm essen nicht nur gesund, sondern lecker und vielfältig ist, haben wir auch schon länger entdeckt.
Als besonders kniffelig erleben wir es, die Balance bei unseren Kindern zu wahren: Auf die prasselt ein überbordendes Konsumangebot ein. Beim Blick ins Kinderzimmer habe ich dann den Eindruck, dass wir uns immer noch zu oft zugunsten eines kurzfristig zufriedenen Kindes entscheiden. Allerdings hat sich das bei der Größeren ausgewachsen, sodass ihr die Fridays-for-Future-Demo heute wichtiger ist als das neueste Gadget.
Natürlich könnte ich jetzt noch lang und breit ausführen, dass jede und jeder mit dem Wechsel zu gutem Ökostrom und Biogas ganz unkompliziert seinen Beitrag zu einer nachhaltigeren Zukunft leisten kann. Aber das wäre dann doch zu viel Werbung.
Vielen Dank für das Gespräch!