Wieso glückliche Entwickler*innen ein entscheidender Wettbewerbsvorteil sind
Der Fachkräftemangel ist nicht mehr nur ein Schlagwort in Talk-Shows, viele Unternehmen können heute schon offene Stellen nur schwer oder gar nicht mehr besetzen. Besonders betroffen ist dabei die IT. Geeignete Talente zu finden und langfristig zu binden, wird zur geschäftskritischen Aufgabe. Ein Umdenken ist gefragt.
Wie sich die Beschäftigtensituation in der IT-Branche schon heute darstellt und welche Entwicklung ihr bevorsteht, zeigen aktuelle Zahlen:
- Die Zahl der offenen IT-Stellen ist 2021 um 12% auf 96.000 angestiegen. [1]
- 87% der ausgeschriebenen IT-Stellen beziehen sich auf Berufsfelder, in denen die Gesamtzahl offener Stellen die Anzahl der zur Verfügung stehenden Arbeitnehmenden übersteigt. [2]
- Laut Schätzungen werden bereits 2030 in Deutschland 2 Millionen MINT-Fachkräfte fehlen. [3]
Während Unternehmen auf der einen Seite also vor der nahezu unlösbaren Aufgabe stehen, ihre Vakanzen überhaupt adäquat zu besetzen, lässt sich zeitgleich eine abnehmende Bindung von Mitarbeitenden an ihr Unternehmen feststellen. So fühlen sich hierzulande gerade einmal 16% der Beschäftigten mit ihrer Arbeit und ihrem Arbeitgeber verbunden. [4] 37% geben an, grundsätzlich offen für einen Jobwechsel zu sein. [5] Effekte, die durch die Corona-Pandemie und zunehmende Digitalisierung des Arbeitsalltages verstärkt werden.
Vor diesem Hintergrund müssen Unternehmen zwei entscheidende Fragen beantworten: Wie kann ich ein attraktiver Arbeitgeber sein und wie kann ich mich resilient für unvermeidbare Fluktuation aufstellen?
Perspektivwechsel: Was wollen meine Entwickler*innen eigentlich?
Die User Experience (UX) hat es vorgemacht: Die Wahrnehmung jeder einzelnen Person entscheidet über den Erfolg. Stellen wir die Entwickler*innen in den Mittelpunkt, sprechen wir analog von der Developer Experience (DX). DX bezieht sich hierbei auf sämtliche Erfahrungen, die im Laufe der Softwareentwicklung von den beteiligten Personen gemacht werden. Der Einfachheit halber sprechen wir in diesem Artikel von Entwickler*innen, meinen aber durchgehend sämtliche am Entwicklungsprozess beteiligten Personen, beispielsweise auch Business Analyst*innen. Initial wurde das Konzept der Developer Experience von Fabian Fagerholm und Jürgen Münch von der Universität Helsinki im Jahr 2012 vorgeschlagen. [6] Um einen 360°-Blick auf die Erfahrungswelt der Entwickler*innen zu ermöglichen, werden diese in drei Dimensionen eingeteilt: Wahrnehmung, Emotion und Aspiration.
Wahrnehmung bezieht sich auf die konkrete Arbeitsumgebung und Entwicklungsinfrastruktur, die tagtäglich genutzt wird. Darunter sind die rein technische Infrastruktur, sowie sämtliche Tools, Methoden, Prozesse und Skills gefasst, die Entwickler*innen im Rahmen des Entwicklungsprozesses benötigen. Hierzu gehört, wie zufrieden die Entwickler*innen beispielsweise mit der verwendeten Entwicklungsumgebung sind, ob passende (z.B. agile) Arbeitsweisen angewendet werden, um die Entwicklung voranzutreiben, oder wie sichergestellt wird, dass die Entwickler*innen das notwendige Know-how besitzen, um mit der gegebenen Infrastruktur effektiv zu arbeiten. Beachtet man die Präferenzen der Entwickler*innen, so kann der Anteil der produktiv und wertstiftend genutzten Arbeitszeit maximiert werden. Etwas, was sowohl im Interesse Stakeholder als auch im Interesse der Entwickler*innen selbst liegt.
Die zweite Dimension der Developer Experience, Emotion, stellt die Frage in den Mittelpunkt, wie sich die Entwickler*innen bei der Arbeit fühlen. Beispielhafte Fragestellungen sind:
- Werden Entwickler*innen respektvoll behandelt?
- Herrscht psychologische Sicherheit?
- Gibt es ein Zugehörigkeitsgefühl oder ist das Team durch Grüppchenbildung zersprengt?
Die Antworten auf diese Fragen haben erheblichen Einfluss auf das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit der Entwickler*innen. [7] Positive Emotionen schaffen nicht nur die Grundlage für eine nachhaltig produktive Arbeitsweise sowie eine gesunde Fehler- und Lernkultur, sondern bindet die Entwickler*innen auch langfristig an das Unternehmen und ist eines der besten Argumente, um neue Fachkräfte für das Unternehmen zu begeistern.
Damit eine gute Toolauswahl, gepaart mit positiver Emotion, zum optimalen und nachhaltigen Ergebnis führt, müssen die Entwickler*innen den Wert ihres Beitrags verstehen. Dies führt uns zur dritten Dimension der Developer Experience, der Aspiration. Diese wird unter anderem durch eine transparente Planung, inklusive Zieldefinition, nachvollziehbare strategische Rahmenbedingungen und eine motivierende Unternehmensvision gefördert. Letztendlich umfasst Aspiration also sämtliche Erfahrungen der Entwickler*innen, welche das intrinsische Streben in Richtung wertschöpfender Arbeit fördern.
Glückliche Entwickler*innen – ein entscheidender Wettbewerbsvorteil
Zusammengefasst ermöglicht die Developer Experience einen 360°-Blick auf die Erfahrungswelt der Entwickler*innen im Unternehmen. Mit der Aufteilung in die Dimensionen Wahrnehmung, Emotion und Aspiration, ermöglicht das Konzept eine transparente und strukturierte Erfassung der DX und baut hierbei auf etablierte und bekannte Ansätze aus dem UX auf. Indem Unternehmen in ihre DX investieren, können nicht nur die eigenen Entwicklungskapazitäten zielführender genutzt werden. Vielmehr positionieren sich Unternehmen darüber hinaus unternehmensintern wie -extern als attraktiver Arbeitgeber auf einem umkämpften Arbeitsmarkt. Durch die strukturierte Aufbereitung und einer engen Vernetzung mit erprobten Verfahren, etwa aus der agilen Arbeitswelt oder der DevOps-Kultur, bietet DX Unternehmen das Potenzial, die richtigen Stellschrauben effizient zu identifizieren und nachhaltig zu optimieren. Dies kann zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil im Kampf um IT-Fachkräfte werden.
Quellen
[1] bitkom.org (2022), IT-Fachkräftelücke wird größer: 96.000 offene Jobs, 03. Januar, https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/IT-Fachkraefteluecke-wird-groesser, letzter Zugriff: 12.08.2022.
[2] Jansen, Anika; Flake, Regina; Schirner, Sebastian (2020), „Die Fachkräftesituation in IT-Berufen und Potentiale der Zuwanderung“, KOFA-Studie.
[3] sthree.com (2022), MINT-Fakten 2022, https://www.sthree.com/media/copljzqh/sthree-fact-sheet-211220_final.pdf, letzter Zugriff: 12.08.2022.
[4] gallup.com (2022), State oft he Global Workplace: 2022 Report, https://www.gallup.com/workplace/349484/state-of-the-global-workplace-2022-report.aspx, letzter Zugriff: 12.08.2022.
[5] xing.com (2022), XING-Studie zeigt: Jeder Vierte kündigt Job, ohne neue Stelle in Aussicht zu haben, 18. Januar, https://www.xing.com/news/articles/xing-studie-zeigt-jeder-vierte-kundigt-job-ohne-neue-stelle-in-aussicht-zu-haben-4540742, letzter Zugriff: 12.08.2022.
[6] Fagerholm, Fabian; Münch, Jürgen (2012), „Developer experience: Concept and definition“, 2012 international conference on software and system process (ICSSP), IEEE, S. 73-77.
[7] siehe z.B. zur psychologischen Sicherheit: https://rework.withgoogle.com/blog/five-keys-to-a-successful-google-team/